Am 3. Januar 2019, war ich wieder mal bei meiner Lieblingsalzerszentrumpatientin: die Frau Hecht*. In den letzten Wochen ging es auf und ab mir ihr und ihren psychischen Fähigkeiten. Frau Hecht hat Demenz, aber Demenz ist zwar progressiv, aber nicht linear. Nach Perioden mit starkem Rückfall, bei MS-Patienten würde man das «einen Schub» nennen, treten wieder Verbesserungen auf. Drs. Martin van Gennep, ein Gesundheitswissenschaftler, der seit einigen Jahrzehnten mit psychisch geriatrischen Patienten, ein anderes Wort für ältere Personen mit einer demenziellen Entwicklung, arbeitet und diese auch studiert sagte folgendes: « Unser Gehirn funktioniert wie eine Bibliothek. Wenn wir etwas erleben, lernen, lesen, sehen, hören oder erfahren entscheidet unser Gehirn in den Sekunden direkt nach dem Ereignis, wo das Ereignis noch in unserem Kurzzeitgedächtnis ist, ob es dieses Ereignis speichert in unserem Langzeitgedächtnis oder nicht. Das Ereignis wird wie in einem Buch festgelegt und in unserer Bibliothek (das Langzeitgedächtnis) einen Platz gegeben, fein säuberlich nach Datum, Ort und Zeit.
Man kann Demenz bei demenzkranken Personen, wobei es unwichtig ist ob es durch eine demenzielle Entwicklung ist oder durch eine Krankheit wie Alzheimer, damit vergleichen, dass Bücher aus deren Bibliothek verschwinden und zwar in chronologischer Reihenfolge: die neuesten zuerst. Wenn man so ein jüngstes Buch aus einer Bibliothek rausnimmt, ist für die demenzkranke Person das nächste Buch das jüngste. Das verrückte an der Sache ist, dass Bücher manchmal wieder zurückplatziert werden, leider ohne einige Seiten mit Informationen, die dann für immer weg sind. Das geht so lange bis alle Seiten raus sind und das ganze Buch endgültig weg ist. Irgendwann sind so viele Bücher weg, dass z.B. das Buch über ihre Einschulung das letzte und aktuellste ist. Die Person denkt wirklich, dass sie wieder 5 Jahre alt ist. «
Bei Frau Hecht steh ich meistens in einem Buch, dass mich als «Herr Schärer» kennzeichnet, aber nicht immer. Letzte Woche war ich plötzlich und zum ersten Mal in einem anderen Buch «Herr Schneider». Ich erzähle zwar jedes Mal wie ich wirklich (Herr Madou, der Physiotherapeut) heisse, aber ihre Reaktion darauf («Awah. Das ist ja wunderbar Herr Schärer, dass Sie sich dafür die Zeit genommen haben zu kommen. Und was machen Sie?») ist für mich nicht Anlass zu denken, dass sie es je noch verstehen wird.
Wie man sich irren kann. Am 7. Januar war sie sehr wach und begrüsste mich wie üblich: « Ah, Herr Schärer. Schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben mich zu besuchen.» Obwohl ich mir nicht viel davon erhoffte versuchte ich es noch mal. «Eigentlich bin ich Herr Madou. Wissen Sie warum ich hier bin bei Ihnen?» «Sie kommen für die Therapie……..» überraschte sie mich, um danach den Satz zu beeenden mit: «……..Herr Schärer.» Immerhin.
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