Wie ihr am beigefügten Foto sehen könnt, bin auch ich im Ausnahmezustand, sei es nicht so schlimm betroffen, wie viele meiner Kollegen, die eine Praxis haben. Der Grund? Ich darf noch arbeiten in einem Altersheim in Fislisbach und habe da meine feste Gruppe von Patienten, die auf mich zählen.
Ich möchte euch einen Nachmittag im Altersheim am Buechberg schildern, damit ihr euch ein Bildmachen könnt, wie so eine Krise in so einer Institution ankommt.
Es ist Montag, der 30. März (marzo auf Italienisch, aber dazu später). Um 13 Uhr habe ich meinen ersten Patienten. Alle Patienten (ich habe sie heute alle einen Namen mit M gegeben) werden in ihren Zimmern behandelt. Nachdem ich mein Auto geparkt habe auf den momentan recht leeren Parkplatz, nehme ich meinen Ordner mit den Akten der heutigen Patienten. Es sind heute fünf.
Aber zuerst muss ich in das Gebäude kommen. Es gibt strikte Anweisungen: keine Besuche von Verwandten und Bekannten für die BewohnerInnen. Deshalb steht vor dem Eingang ein Tisch mit einer Klingel. Ich drücke diese und warte auf die Dinge, die kommen. Die Dinge, die kommen sind eine streng aussehende Mitarbeiterin mit Mundschutz. Ich nehme an, dass sie streng aussieht, denn der Mundschutz macht die nonverbale Kommunikation durch das Mienenspiel so gut wie unmöglich. Und um aus den Fältchen neben den Augen einfach zu schliessen, dass es Lachfältchen sind, ist etwas heikel. Vielleicht ist es nur das Alter und ist sie nicht froh, dass ich sie aus ihrer Mittagpause herausgerissen habe.
Aber gut. Fakt ist: sie steht da wie eine eins und fragt mich (sie hat auf den Ordner gesehen, dass ich der Physio bin) ob ich mich krank fühle, Fieber habe, jemand mitschmuggele usw und, nachdem ich das Verhör zu ihrer Zufriedenheit überstanden habe, will sie wissen ob ich eine Mundschutzmaske dabei habe. Ich habe und darf rein. Ich desinfiziere meine Hände am Spender beim Eingang, entledige mir meiner Jacke in der Garderobe und vermumme mich (siehe Bild).
Unterwegs zum ersten Patienten im Trakt A, ein verwitweter ehemaliger Bauer, der Schwindelanfälle hatte und zudem eine schwere Lungenentzündung, kommt mir eine Bewohnerin, die ich vor einem Jahr behandelt habe, entgegen und hebt beide Hände hoch und ruft: ``Ich ergebe mich, aber bei mir ist nichts zu holen``. ``Ich bin es doch nur Frau Müller. `` sage ich ihr. ``Habe sie mich nicht erkannt``. ``Nein``, sagt sie, `` Ihre Frisur sitzt irgendwie anders`` und stapft lachend davon.
Bei Herrn Münster erweist sich meine Maske als nicht sehr förderlich für die Kommunikation zwischen uns. Er ist (sehr) schlecht hörend und liest normalerweise das meiste von meinen Lippen. Also schreie ich ihn eine halbe Stunde an und versuche eine Art Gebärdensprache mit Händen und Füssen. Er nicht natürlich. Er schreit einfach zurück, da er glaubt, ich bin auch taub.
Dann muss ich in Trakt B. Da ist Herr Meier, der, nach einem Unfall vor einigen Jahren, Querschnittgelähmt ist. Meistens sitz er schon in seinem elektrischen Rollstuhl, wenn ich reinkomme. Ich bewege dann seine Arme und Beine passiv durch, damit die Spastik abnimmt und bitte ihn beim Anheben der Arme, zu versuchen mitzumachen. Das heisst aktiv-assistiv bewegen. Dann versuchen wir, aus dem Stuhl aufzustehen. Mit leichter Hilfe und sich festhaltend am Bett, kann er das 4-5 mal. Es ginge mehr, wenn da nicht das linke Knie wäre. Bei dem Unfall damals hat er alle Bänder im Knie gerissen. Daher ist das Knie nicht sehr stabil, aber es geht. Schmerzen hat er dabei nicht, wird aber schnell müde. Aber er liebt es, aufzustehen. Sagen kann er das nicht gut, denn auch sein Sprachzentrum ist betroffen. Mit Entscheidungsfragen kommen wir noch am besten klar. «Wollen Sie heute aufstehen, Herr Meier? `` Er braucht nur ``ja`` oder ``nein`` zu sagen, anstatt einen ganzen Satz zu formulieren. Das geht kaum, auch weil seine Atmung beeinträchtigt ist.
Heute liegt er aber noch im Bett und schläft, mit Atemmaske und Schlauch am Beatmungsgerät verbunden, tief und, wie sich herausstellt, sehr fest. Wecken ist dann heikel, denn wenn man ihn aufweckt erschrickt er oft so sehr, dass seine Spastik schlagartig zunimmt. Und da ich heute nicht gerade vertrauenerweckend und samariterhaft aussehe, entschliesse ich mich zuerst die Pflege zu kontaktieren. Die sagen mir, er sei in den letzten Tagen sehr müde und somit lasse ich die Therapie für heute mal sein und kehre zurück in Trakt A, wo mich eine 91-jährige Frau Mapp erwartet, die letzte Woche mit Übelkeit im Bett lag. Sie hätte am Vortag etwas Falsches gegessen und habe sich erbrochen. Jetzt sieht sie wieder fitter aus. Als ich reinkomme, schaut sie mich verwundert an. ``Kommen Sie heute Herr Madou``. ``Nein``, sage ich`` Ich komme nicht. Ich bin schon da``. Haha, denn so ist es fast jede Woche. Sie hat Schwierigkeiten mit ihrem Gedächtnis und hat vor einigen Monaten eine Operation hinter sich, um die Durchblutung im rechten Unterschenkel zu normalisieren. Daher machen wir ``Ausdauer``. Sie muss laufen. ``Wie geht es Ihnen``, frage ich. ``Jetzt besser, aber gestern war nicht gut. Da habe ich mich erbrechen müssen nach dem Essen``. ``Schon wieder? `` erwidere ich. ``Wieso schon wieder? `` fragt sie. ``War das nicht vor einer Woche? `` ``Ja, das ist auch möglich`` ist ihre Antwort und sie versucht aufzustehen (sie lag im Bett, denn dann kann sie nicht stürzen) und ich helfe ihr ein wenig. Dann hole ich ihren Rollator und wir laufen eine Runde im Korridor. Das geht, aber sie ist sehr schnell müde. Daher machen wir jede 10 Meter eine Pause. Sie setzt sich auf dem Rollator und ich erzähle ihr Wissens- und Nichtwissenswertes. Ich brauche mich bei ihr nicht Sorgen zu machen, dass ich Sachen erzähle, die ich schon mal erzählt habe, denn sie erinnert sich nicht mehr so gut, ist aber sicherlich nicht dement. Nur vergesslich. Mit der Frage: ``Haben sie abgenommen. Sie sehen gut aus. `` überrasch sie mich positiv, denn ich habe tatsächlich abgenommen. Stolze 15 Kilo. Hatte aber auch mehr als genug zum Abnehmen und habe immer noch 92 übrig. ``Haben Sie es gesehen`` angele ich weiter nach Komplimenten. ``Nein, `` sagt sie trocken, `aber ich weiss, dass Männer das gerne hören. `` Und lacht mich strahlend an.
Nach dieser Klatsche gehe ich zur letzten Patientin. Frau Meiler, die mit ihren 93 Jahren noch älter ist als Frau Mapp. ``Sie sind zu früh`` ruft sie mich von ihrem Bett zu als ich reinkomme. ``Eine Viertelstunde. Das stimmt, Frau Meiler, aber darf ich trotzdem reinkommen? `` Optimistisch wie ich bin spreche ich weiter, wohl wissend, dass sie mich nicht versteht (auch sie ist so gut wie taub) und mich kaum sieht, was wiederum nicht unbedingt negativ ist. Kann sie sich nicht erschrecken. ``Viel zu früh`` sagt sie nochmals und steht auf, zieht mit meiner Hilfe ihre Hose an und setzt sich in ihren Rollstuhl. ``Viel zu früh`` wiederholt sie, aber geht brav mit auf den Korridor, wo wir üben wollen an einem Barren, der dort befestigt ist. Ausserdem wird gelaufen und sie muss 9-mal an einem Stuhl aufstehen und absitzen. Sit-to-stand für Insider. Mit ihren 93 Jahren ist sie erstaunlich fit. Auch im Kopf. Genauso wie ihr Mann (96), der inzwischen Treppensteigen übt im Treppenhaus.
Frau Meiler und ich schreien uns noch eine Weile an und verabschieden uns in aller Freundschaft.
`` Kommen Sie nächste Woche wieder? `` sagt sie beim Abschied. ``Ja, aber kann nicht garantieren, dass ich nicht zu früh komme. `` bereite ich sie schon mal vor. Sie nickt, aber ich glaube nicht, dass sie es verstanden hat.
Dies alles war am vorletzten Tag von einem gedenkwürdigen Monat März. Die Tessiner sagen daher: Adio Marzo. Die freuen sich auch schon auf April mit seinem Aprilwetter. Aprilwetter heisst auf Italienisch: tempo die marzo. Wer es versteht möge sich melden.
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